Rationalisierung als Verdinglichung
Kolonisierung der Lebenswelt;
Rationalität;
Theorien
Verdinglichung: Definition
Verdinglichung ist die Gegenständlichkeitsform, die die Weltbezüge
der sprach- und handlungsfähigen Subjekte festlegt, die Art und Weise,
sich auf etwas in der objektiven, der sozialen und der jeweiligen subjektiven
Welt zu beziehen (n. Lukács, in Habermas 95 I, S. 475; II, S. 489)
Problematik der
Verdinglichung / Ursache
Beziehungen und Erlebnisse sind an Dinge assimiliert, d.h. an Objekte.
Kategorienfehler, denn diese werden zur objektiven Welt gerechnet, obgleich
sie Bestandteil der sozialen oder der je eigenen subjektiven Welt sind.
Ein systematisch angelegtes Missverstehen führt dazu, dass die Lebenswelt
verdinglicht wird. Ursache ist die Produktionsweise, die auf Lohnarbeit
beruht und das "Zur-Ware-Werden einer Funktion des Menschen" erfordert.
Die Produzenten haben sich von ihren Produkten entfremdet (H '95
I, S. 475/76).
Bedeutung der Verdinglichung
a) Verdinglichung stellt die Kehrseite der Rationalisierung der gesellschaftlichen
Arbeit dar (Lukács, n. Marx). Waren bekommen einen Fetischcharakter,
weil sie einen Gebrauchs- und einen abstrakten Tauschwert besitzen. Die
Arbeitskraft wird von der Persönlichkeit getrennt und in ein Ding
verwandelt, das auf dem Markt verkauft wird (n. Lukács, in H. 95
I, S. 478). "Die ökonomisch relevanten Handlungsorientierungen werden
aus lebensweltlichen Kontexten gelöst und an das Medium Tauschwert
(oder Geld) angeschlossen" (H. 95 I, S. 478). Dies führt zu einer
objektivierenden Einstellung der Handelnden untereinander. Über das
Tauschwertmedium laufende Transaktionen fallen aus der intersubjektiven
Verständigung heraus und werden zu etwas in der objektiven Welt, zur
Pseudonatur. Durch diese Versachlichung schrumpft ihre Lebenswelt auf die
objektive zusammen mit dem Gewinn der Freiheit strategischen, am jeweils
eigenen Erfolg orientierten Handeln. Der Horizont von Wahlmöglichkeiten
orientiert sich an den Angeboten, nimmt zu und wird von Konsensbildung
unabhängig.
b) Lukács zufolge verewigt Weber Phänomene der Verdinglichung
als zeitlosen Typus menschlicher Beziehungsmöglichkeiten; diese bekommen
eine strukturbildende Bedeutung für die ganze Gesellschaft. Die Warenform
wird universell und zur Gegenständlichkeitsform der kapitalistischen
Gesellschaft schlechthin. Sie drückt dem ganzen Bewusstsein des Menschen
ihren Stempel auf, seine Eigenschaften erscheinen als Dinge, die der Mensch
besitzen oder veräußern kann. Alle Beziehungen werden der Gegenständlichkeitsform
unterworfen (H 95 I, S. 482). Über den Spieltrieb und die Totalität
(Ganzheitlichkeit) kann die Zerrissenheit der Lebenszusammenhänge
überwunden werden. .
Überwindung der Verdinglichung
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Dialektische Methode (Lukács, n. Hegel): soll über das Denken
der bürgerlichen Gesellschaft hinausführen. Dieser weltgeschichtliche
Prozess überfordert das Praktischwerden der Theorie. Die Subjekte
müssen identifizieret werden, das Proletariats als Subjekt-Objekt
inthronisiert werden. Bekanntlich schlug dieses Experiment revolutionären
Kampfes fehl.
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Habermas demgegenüber: Der unvollständige Charakter der als Verdinglichung
auftretenden Rationalisierung, der kognitiv-instrumentellen Rationalität
wird durch moralisch-praktische und ästhetisch-expressive Rationalität
ergänzt, zusammengefasst in den Maßstäben des kommunikativen
Handelns. Die Einheit lässt sich nurmehr prozedural auf der Ebene argumentativer
Begründung herstellen.
Der Sachgehalt des Lebens wird unpersönlich, damit der nicht zu verdinglichende
Rest um so persönlicher wird (n. G. Simmel)
Realabstraktionen/Innere Kolonisierung
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(n. Marx) Realabstraktion: Umwandlung von konkreter in abstrakte
Arbeit. Die systematische Entlastung der Lebenswelt, die Rationalisierung,
äußert sich in Überlastungen der kommunikativen Infrastruktur
(H. 95 II, S. 498/S. 554)
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Innere Kolonisierung: mediengesteuerte Subsysteme verursachen gleichzeitig
die Kolonisierung der Lebenswelt und deren
Segmentierung in Wissenschaft, Moral und Kunst.
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Kolonisierung der Lebenswelt: Tendenz, im Privatbereich angesiedelte Vorgänge,
bisher kommunikativ vermittelt, mit den Medien Geld / Macht in die gesellschaftliche
Verantwortung zu nehmen. Äußert sich z.B. als Verrechtlichung
der Familie (Lex. Soz.).
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Voraussetzungen der Verrechtlichung (H. 95 II, S. 522): Abbau traditionaler
Lebensformen, ausdifferenzierte Berufsrollen, legitimiert; Forderungen
nach systemkonformen Entschädigungen für die Realabstraktionen,
Wachstum der Wirtschaft.
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Phasen (H. 95 II, S. 525 ff):
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Absolutismus: bürgerlicher Staat / Rechtsordnung; Leviathan
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Bürgerlicher Rechtsstaat (Beginn: 19. Jhdt)
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demokratischer Rechtsstaat
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sozialer
und demokratischer Rechtsstaat. Recht als Organisationsmittel für
mediengesteuerte Subsysteme.
Themen
der frühen Kritischen Theorie/der Theorie des kommunikativen Handelns
Integration postliberaler
Gesellschaften
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Spezifizierung der Verdinglichung: NS-Regime - staatskapitalistische Ordnung,
ähnlich wie das Sowjetregime. Planende Bürokratien maßgeblich.
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Kritik daran: auch in der NS-Zeit Kompromisse auf Grundlage eines privatkapitalistischen
Wirtschaftssystems!
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Habermas: Zwei Entwicklungspfade: Organisierter Kapitalismus (statt
bürokratischer Sozialismus) entwickelt sich, wenn das Wirtschaftssystem
eine eigene Wachstumsdynamik entfaltet. Die privaten Haushalte sind das
Einfallstor für die vom Wirtschaftssystem abgewälzten Krisen.
Diese äußern sich als Pathologien.
Kultur
und Persönlichkeit werden durch gesellschaftliche Krisen angegriffen.
Kollektive Identitäten werden verunsichert, dies ist auf die Kolonisierung
der Lebenswelt und Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis zurückgeführt.
Demgegenüber drapiert der Staatssozialismus das System als Lebenswelt
(sozialistische Persönlichkeiten, die ihr Plansoll erfüllen).
Familiäre
Sozialisation/Ich-Entwicklung und Massenmedien
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Funktionsverlust der bürgerlichen Kleinfamilie, Schwächung der
Autorität des Vaters und Zugriff außerfamilialer Instanzen,
insbesondere der Kulturindustrie. Manipulative Bewusstseinskontrolle. Über
die Familie mischen sich die Systemerfordernisse in die Triebschicksale
ein (Beispiel: Ödipuskomplex). Horkheimer/Adorno: Die Kommunikationsflüsse
der Massenmedien treten an die Stelle von Kommunikationsstrukturen, die
Funktion der Kulturindustrie gleicht der des Über-Ichs (H. 95
II, S. 572).
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Habermas zur familiären Sozialisation/Ich-Entwicklung: Strukturwandel der bürgerlichen Kleinfamilie:
eigensinnige Rationalisierung der Lebenswelt. Rationalitätspotential
kommunikativen Handelns! Autonomisierung der Kleinfamilie; die familialen
Lebenswelten sehen den von außen auf sie zukommenden Forderungen
des wirtschaftlichen und administrativen Handlungssystems ins Gesicht,
statt von ihnen "hinterrücks mediatisiert" zu werden (H. 95
II, S. 568)! Entkoppelung von System und Lebenswelt hat sozialisatorische
Bedeutung: die Bedingungen sind anfällig, und die Adoleszenzproblematik
nimmt zu. Ausbildung der eigenen Identität und Übernahme von
Erwachsenenrollen sind schwer zu vereinbaren, die Jugendentwicklung ein
kritischer Test für die Anschlussfähigkeit der neuen Generation.
Verdinglichung bildet hier den Ausgangspunkt für Pathologien.
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Habermas zu Massenmedien und Massenkultur:
Horkheimer/Adornos Theorie ist erstens empirisch nicht haltbar. Zweitens
müssen zwei Arten von Medien unterschieden werden: 1. Steuerungsmedien,
die Subsysteme aus der Lebenswelt ausdifferenzieren, und 2. generalisierte
Formen der Kommunikation, die Massenmedien. Letztere ersetzen nicht die
sprachliche Verständigung, sondern ergänzen sie. Sie lassen Öffentlichkeit
entstehen, und sie hierarchisieren und entschränken zugleich den Horizont
möglicher Kommunikationen (H. 95 II, S. 573-75).
Massenpsychologisch
stillgelegter Protest
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Total verwaltete Gesellschaft, repressiver Sozialisationsmodus, Kontrolle
erfolgt durch Massenmedien.
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Habermas: Die Potentiale des Widerstandes werden nicht verdeutlicht. Traditionelle
Verteilungskämpfe sind durch den Sozialstaat weitgehend stillgelegt,
jetzt entwickeln sich andere Protestpotentiale, orientiert an der Grammatik
von Lebensformen: Lebensqualität, Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung,
Menschenrechte. Gruppen: weniger Unternehmer, Arbeiter und gewerbetreibender
Mittelstand, als in der jüngeren Generation, insbesondere bei
besserer Schulbildung.
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Beispiel: GAU eines AKW: nur aus der Systemperspektive fassbares Einbrechen
in die Dimensionen der Lebenswelt.
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Was ist mit den Neonazis? Gegen die zweckrationalen Erfordernisse des kapitalistischen
Systems.
Theorie der Kunst/Positivismus- und Wissenschaftskritik
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Verdinglichung des Bewusstseins. Die Entwicklung der Produktivkräfte
erzeugen bloß Realabstraktionen auf, sind also empirisch nicht fassbar.
Unterscheidung von Lebenswelt und System nur angedeutet als 'Reich der
Freiheit und Reich der Notwendigkeit' (n. Marx). Unter geschichtlicher
Perspektive: durch Machtergreifung des Proletariats vereinheitlicht.
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transzendierende Elemente der Kunst werden allerdings von den verbrauchten
bürgerlichen Idealen unterschieden
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Habermas: Es gibt keine Gesetze, die in der Entwicklung der Gesellschaft
als Ganze gefunden werden können (historischer
Materialismus). Habermas orientiert sich stattdessen an der Möglichkeit
von Lernprozessen
(H. 95 II, S. 562).
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