Sozialstruktur und dynamischer Prozess im Falle der modernen Medizin
Inhalt:
Wodurch ist
das Rollenverhältnis zwischen dem Professionellen und dem Klienten
gekennzeichnet?
Kern: Durchdringung der Beziehung zwischen Professionellem und Klienten
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durch wissenschaftliche Disziplinen,
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soziale Systeme mit ihren Rollenerwartungen an den Klienten, die Persönlichkeit
und die Verhaltenssysteme zwischen Experte und Klient.
Den Professionellen zwingt dessen Loyalität seiner wissenschaftlichen
Disziplin und gegenüber den sozialen Systemen, für die er den
Klienten zur Rollenausführung befähigen soll, zur stetigen Heranführung
an spezifische, neutrale, universalistische und performative Orientierungen.
Diese sind wiederum nur durch deren Pendant wirksam (n. Münch 1988,
S. 81).
Welche Bedeutungen
hat die Krankheit für ein soziales System?
Krankheit:
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Antwort auf sozialen Druck - man kann sich sozialen Verantwortlichkeiten
entziehen.
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verschlechtert die wirksame Wahrnehmung der sozialen Rolle.
-
Krankheit lässt sich nicht durch soziale Handlung komplett kontrollieren,
sie gehört zu den Bedingungen des Sozialsystems.
Daher gibt es ein funktionales Interesse der Gesellschaft, Krankheit zu
minimieren und zu kontrollieren. Ein Beispiel ist der vorzeitige Tod. Geburt,
Kinderpflege und Sozialisation, Schulausbildung etc. verursachen gesellschaftliche
Kosten. Stirbt ein Mensch vorzeitig, bedeutet das, dass die Kosten
nur einen Teil des möglichen Ertrages zeitigen.
Welches sind die Hauptaufgaben
der Medizin?
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Die medizinischen Praxis hilft dem Individuum, mit Störungen seiner
Gesundheit, d.h. mit Krankheit fertig zu werden.
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Moderne medizinische Praxis ist die Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen
auf die Probleme von Krankheit und Gesundheit, zur Kontrolle der Krankheit.
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Kulturelles Phänomen in westlichen Gesellschaften
Welchen Stellenwert
hat die Krankenbehandlung zwischen Magie und Wissenschaft?
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Die Krankenbehandlung als Aufgabe für angewandte Naturwissenschaft
ist nicht selbstverständlich. Sie hatte etwas Übernatürliches
an sich und wurde auf magische Art und Weise behandelt. Die Beispiele der
Tradition sind China und unser eigenes Mittelalter. Es gab nicht nur die
Magie, sondern auch Gesundheitsaberglauben im Sinne von pseudorationalen
Annahmen und Praktiken.
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Es gibt in der Wissenschaft Widerstände, wichtige Fortschritte
im eigenen Feld zu akzeptieren. Klassisches Beispiel ist die Opposition
der Französischen Akademie der Medizin gegenüber Pasteur; für
einige Zeit schätze man die Bedeutung seiner Entdeckungen nicht im
geringsten. Dasselbe galt für den Widerstand der Chirurgen gegen Listers
Einführung der chirurgischen Asepsis. Damals hieß es „lobenswerter
Eiter“, ein schönes Beispiel für medizinischen Aberglauben.
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Expressiver Symbolismus medizinischer Praxis: Benennung der Krankheit hat
eine magische Wirkung, ebenso wie Handauflegen. In der Interaktion wird
ein Ritual praktiziert (vgl. Lüth 1972, S. 297).
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Stellenwert anderer Berufsgruppen, wie Heilpraktiker / Krankenpflege
Mit welchen
Orientierungsalternativen lässt sich die Arztrolle kennzeichnen - welche Besonderheit
ist jedoch etabliert?
Orientierungsalternativen
Die Rolle des Arztes gehört zu der allgemeinen Klasse der freiberuflichen
(‘professional’) Rollen, einer Subklasse der größeren Gruppe
der beruflicher Rollen. Ebenso wie für die Mutterrolle ist zwar die
Sorge
um die Kranken typisch für die Arztrolle, der technische Inhalt der
Funktion bedingt aber den institutionalisierten Status des Arztes als full-time
Job. Seine Rolle ist erworben durch Leistungskriterien (Performanz).
Im Einklang mit den Mustern der Berufsrollen in unserer Gesellschaft verkörpert
seine Rolle die Werte „Universalismus, funktionelle Spezifität,
affektive Neutralität“, anders als die Rolle des Geschäftsmanns
ist jedoch seine Rolle kollektiv-orientiert, nicht selbst-orientiert:
Bilden die Kranken die Bedingung der Sozialrolle des Arztes, ist Kranksein
einfach eine Lage, in die man gerät? So einfach ist es nicht. Die
entscheidende Bedingung (der ‘test’) ist die Existenz eines Sets von institutionalisierten
Erwartungen und korrespondierenden Gefühlen und Sanktionen.
Welches sind die Kennzeichen der Krankenrolle?
Die Krankenrolle beinhaltet Folgendes :
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Befreiung von der normalen sozialen Rollenverantwortlichkeit (abh. von
der Erkrankung), aber auch eine Verpflichtung. Sie müssen sich melden,
wenn sie das Bett hüten müssen. Das ist gegen Krankfeiern.
-
Krank sein heißt, sich nicht mehr zusammenreißen zu können.
Es geht um sein Befinden, nicht um seine Einstellung. Die Rolle ist negativ
bestimmt durch die Unfähigkeit, sich wohl zu fühlen, also negativ
erworben durch den Verlust an Gesundheit. Andererseits gibt es positive
Motivationen, die dadurch Motivationen zur Abweichung sind.
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Der Kranke muss Hilfe annehmen. Der Heilungsprozess mag spontan
sein, dauert die Erkrankung an, kann er sich allein nicht helfen. Das ist
die Brücke für die Akzeptanz von Hilfe.
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Die ersten beiden Elemente sind nur dadurch legitimiert, dass der
Kranke auch gesund werden will, genauso wie es seine Partner auch wollen.
Der Kranke muss die Motivation zur Besserung und den Wunsch zu überleben
haben (Ruesch/Bateson 1995, S. 110)
-
Der Kranke muss die technisch kompetente Hilfe des Arztes aufsuchen
und muss mit ihm kooperieren. Er darf die Autorität des Arztes
als Experte nicht in Frage stellen, muss ihm alle relevanten Informationen
zur Verfügung stellen und all seine Anordnungen befolgen (n. Malzahn
in Geissler (Hg.) 1979, S. 259). Die Rolle des Arztes und des Kranken fügen
sich zu einer komplementären Rollenstruktur zusammen.
Die Privilegien und Freiheiten der Krankenrolle sind ein
sekundärer
Gewinn, der den Patienten zusätzlich motiviert, gewöhnlich
unbewusst, ihn sich zu sichern bzw. beizubehalten. Im allgemeinen
sind Motivationsbalancen von großer funktionaler Bedeutung für
das Sozialsystem, sie sind ausnahmslos institutionell kontrolliert.
Das besondere
Muster der Krankenrolle und ihre Beziehung zur Sozialstruktur
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Kontingente Rolle, in die jeder hineinkommen kann. Es ist eine Rolle auf
Zeit.
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Die Rolle ist im wesentlichen universell, es gibt objektive Kriterien für
die Krankheit
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Die Ausrichtung der Rolle des Kranken gegenüber dem Arzt ist kollektiv-orientiert.
Geht er von einem Arzt zum anderen, muss er das dem ersten Arzt sagen
und damit das Verhältnis zu ihm beenden. Das steht in scharfem Kontrast
zu kommerziellen Verhalten, es gibt keinen beliebigen Wechsel.
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Der Kranke ist hilfebedürftig, weil er nicht über die notwendigen
Hilfsmittel verfügt. Der Arzt hat das Fachwissen, die spezielle Ausbildung
und die Erfahrung, um dem Patienten zu helfen.
Wodurch ist die
Situation des Patienten im Einzelnen gekennzeichnet?
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Der Patient ist ein Laie, ebenso seine Familienangehörigen.
Der Patient ist nicht verantwortlich für seinen Zustand. Er kann sich
zwar in Gefahr gebracht haben, „kann sich aber seinen Beinbruch nicht durch
Willenkraft beheben“.
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Der Kranke ist ängstlich über seinen Zustand und die Zukunft.
Das unterscheidet ihn von jemandem, der lediglich etwas wünscht, wie
z. B. angemessene Nahrung.
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Ein Bettlägeriger kann nicht einfach in die Apotheke gehen und kaufen,
was er braucht und nicht beurteilen, was er braucht. Es handelt sich um
eine Kommunikationslücke. Er kann nicht den „besten“ Arzt auswählen.
Er muss sich auf professionell qualifizierte oder institutionalisierte
Bewertungen verlassen.
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Es muss aber dem Patienten klar gemacht werden, was mit ihm los ist, seine
Prognose, welche Belastung er für seine Genesung tragen muss.
Es muss einen Mechanismus geben, die Autorität eines Arztes zu
bewerten, denn schließlich hat dieser keine Befehlsgewalt!
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Der Patient muss sich häufig erst schlechter fühlen (OP),
um sich bessern zu können. Um gesund zu werden, muss er die Faktoren
für seine Genesung kennen und rational abwägen und sich Regeln
und eine Strategie zurechtlegen.
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Die sozialen Beziehungen und Erfreulichkeiten sind zu einem gewissen Grade
unterbrochen. Im Extremfall bis hin zum Beenden seines Lebens.
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Den notwendigen Grad an emotionaler Einstimmung zu erreichen, ist schwierig.
Eine nicht seltene Reaktion ist die Verleugnung der Krankheit und die Verweigerung,
sich „hinein zu geben“. Andere jammern auf übertriebene Weise., bemitleiden
sich selbst, um noch mehr Hilfe zu bekommen, als notwendig und machbar,
speziell unaufhörliche personale Aufmerksamkeit und Pflege. Ob sie
diesem Aufmerksamkeit zollen oder nicht, beeinflussen Ärzte unvermeidlich
den gefühlsmäßigen Zustand ihrer Patienten.
Welche Bedeutung hat
der Tod für die Berufsausübung des Arztes in der Gesellschaft?
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Über den vorzeitigen Tod, sowohl was den Sterbenden als auch die Überlebenden
betrifft, gibt es in jeder Gesellschaft kulturelle und soziale Strukturierungen
von Ideen. Es lässt sich der „Todeskomplex“ nicht einfach zu einem
Muster instrumentalisieren. Es ist ein zentraler Punkt für ausgedrückten
Symbolismus.
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Besonders die nordamerikanische Gesellschaft spielt den Tod herunter. Man
will so schnell wie möglich damit fertig werden. Das Trauern nimmt
ab. Gramreaktionen werden öfter unterdrückt als in anderen Gesellschaften.
Normalerweise (im Frieden) ist der Tod mit Krankheit verbunden. Es gibt
frei fluktuierende Ängste vor dem Tod.
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Der Arzt hat engen Kontakt mit dem Tod und muss als erster Ansprechpartner
die Situation strukturieren. Hinzu kommen als Berufsrollen der Geistliche,
der Bestattungsunternehmer und die Polizei. (Militär nur in Krisenzeiten).
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Der Geistliche unterscheidet sich vom Arzt dadurch, dass er die Verbindung
zum Geheiligten darstellt.
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Für den Arzt ist der erste Kontakt im Studium mit dem menschlichen
Kadaver bei einer Sektion oft ein feierliches Ritual. Es bringt den Arzt
in eine enge Verbindung mit Tod und dem Toten. Es ist erst nach einem langen
Kampf dazu gekommen, Leichen zum Training zu sezieren. Der Arzt und Theologe M.
Servet
(1511-1553), Entdecker des kleinen Blutkreislaufs, ist noch als Freidenker verbrannt
worden! (Feld,
H. 1999)
Wodurch ist die Sonderstellung des
Arztes gegenüber anderen Berufsgruppen bedingt?
Ist es ausreichend, wenn er konsequent und geduldig genug auf seine Ziele
hinarbeitet? Emotionen, starkes Leiden und die Lebensgefahr bringen gewisse
Probleme der eigenen emotionalen Einstellung mit sich. Kenntnis, Drill
und eigene Ressourcen können dabei an ihre Grenzen kommen. Die Sonderstellung
hat folgende Aspekte:
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Schwierigkeit der Diagnosestellung. Es gibt keine Punkt-zu-Punkt
Beziehung zwischen der Realität und ihrer Kontrolle durch eine Diagnose.
Die Anwendung von Kontrollregeln kann fruchtlos bleiben. Das Vertrauen
in die richtige Diagnose ist oft schlecht begründet. Osler (1870)
zeigte, dass die damaligen Mittel gegen Pneumonie weder nützlich
noch wirksam waren. Der Gedanke, die Krankheit doch nicht rational kontrollieren
zu können: das war wissenschaftlicher Fortschritt.
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Unzureichende / fehlende Therapiemöglichkeiten. Ein Patient
verliert z.B. an Körpergewicht und Energie. Die diagnostische
Prozedur ergibt einen fortgeschrittenen inoperablen Krebs des Magens. Man
weiß zwar mehr, aber die Hoffnung ist zerstört. Die Medizin
kann zwar mehr feststellen, ist aber weit davon entfernt, die festgestellten
Krankheiten beseitigen zu können. Der Mediziner kann nichts machen,
ist aber den tiefen Emotionen des Patienten und der Angehörigen ausgesetzt,
ist emotional angespannt. Hilft keine wissenschaftliche Erkenntnis, greift
er ebenso wie der regredierte Patient auf Neomagie zurück (s. Lüth
1972, S. 298).
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Die absoluten Grenzen für die Krankheitskontrolle (diese sind
natürlich relativ zum medizinischen Fortschritt) ist nicht die einzige
Quelle für Frustration und Überanspannung. Hinzu kommt die Ungewissheit,
welche Faktoren sich durchsetzen werden. Es kann auch sein, dass gar
keine Faktoren bekannt sind, der bestgeführteste Plan schief
geht. Es ist unmöglich, eine Linie zu ziehen zwischen den spontanen
Heilungskräften und den Effekten der ärztlichen Intervention.
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Ein großer Bereich für diese nicht in Betracht gezogenen Faktoren
ist die psychische Situation, die gerade im höchstentwickelten
Feld der angewandten Naturwissenschaften ignoriert wurde. Der Arzt ist
für alles verantwortlich, was den Pat. komplett, früh und schmerzlos
heilen läßt. Interaktionen betreffen auch die emotionalen Störungen.
Magie spielt innerhalb der Patientengruppe als auch bei den Ärzten
eine Rolle. Die Doktor-Patient-Beziehung ist nicht einfach eine Institutionalisierung
von Rollen, sondern spezielle Mechanismen angewandter sozialer
Kontrolle. Trotz Ungewissheit gibt es ein starkes emotionales Interesse
am Erfolg, ähnlich wie in anderen technischen Berufen (z.B. wichtig
auch bei der Kriegführung). Ein Ingenieur z.B. hat es aber hat es
mit Material zu tun, nicht mit Menschen und ihren emotionalen Regungen
und der intimen Beziehung zu ihnen.
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Sehr starke Gefühle hängen mit der Körperlichkeit
zusammen. Es ist schamlos, wenn ein Mann ohne Hosen in der Öffentlichkeit
erscheint, ebenso eine Frau ohne Shirt und Hose. Es ruft starke Gefühle
hervor, ist ein Symbol hochstrategischer Bedeutung. Für den Arzt ist
der Zugang zum Körper aber essentiell notwendig, um seine Funktion
wahrzunehmen, es gehört als auch die rektale oder vaginale Untersuchung
dazu. Das darf sonst nur der Sexualpartner.
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In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem der Körperverletzung,
der Ängste vor gewöhnlichen Injektionsnadeln oder vor einer OP.
Die Zustimmung zu erhalten, ist nicht selbstverständlich, ebenso nicht
für die Untersuchung mit der Bronchoskop beispielsweise. Irrationale
Reaktionen des Patienten sind nicht abnormal. Der Fakt, daß diese
organisiert und kontrolliert ist, macht die Zustimmung nicht unproblematisch.
Angesichts der Möglichkeit der Störung zeigt sich die erfolgreiche
Kontrolle als besonders wichtiges soziologisches Problem.
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Ähnlich muss das Problem des Zugangs zu vertraulichen Informationen
betrachtet werden. Manche Dinge würde ein Patient nicht einmal seiner
Frau erzählen, die für den Arzt eine symptomatische Bedeutung
haben. Der Arzt wird in signifikant private Angelegenheiten des Patienten
einbezogen, gestaltet eine intime und persönliche Beziehung. Deren
funktionelle Problem unterstreichen die Strukturierung seiner professionellen
Rolle.
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Hinzu kommt die unbewusste Projektionsbedeutung, Übertragung
(transference). Der Patient schreibt dem Arzt Elemente zu, die nicht wirklichkeitsadäquat
sind, sondern aus psychischen Bedürfnissen des Patienten herleiten.
Das Zusammenwirken des Kranken mit seinen Intimitäten und dem Arzt
bringt Komplikationen mit sich in der menschlichen Einstellung. Der berufliche
Tätige muss trainiert sein, um mit dem Distress fertig zu werden.
Welche
Bedeutung haben die Orientierungsalternativen für die Sozialstruktur?
Funktionale Bedeutung institutionalisierter Regeln medizinischer Praxis:
Zentrum des professionellen Musters ist Leistungsdenken, Universalismus,
funktionale Spezifität, affektive Neutralität und Kollektiv-Orientierung.
Universalismus
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Weil wissenschaftlich trainiert und technisch kompetent, kann das Muster
nicht partikularistisch sein. Partikulare Gruppen integrieren sich zwar
untereinander, erzeugen aber Gegensätze und Konflikte zwischen sich.
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Da die Medizin eine angewandte Wissenschaft ist, kann sie nicht die reine
Lehre vertreten. Physik, Pharmazie, Biologie, Psychologie und nun auch
Soziologie werden von ihr integriert und angewandt (Soziologie ist in der
BRD seit 1970 in der Approbationsordnung). Partikularistische Orientierung
würde das nicht zulassen. Pasteur war z.B. „nur“ ein Chemiker,
wurde daher zunächst zurückgewiesen, dies wäre aber
auf Dauer nicht tragbar.
Funktionsspezifität
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Funktionsspezifität grenzt die universelle Weisheit ein. Allerdings
darf diese Spezifität nicht zu eng sein.
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Will der Patient Fragen nicht beantworten bzw. will er Prozeduren nicht
mitmachen, lässt sich die Notwendigkeit damit begründen, dass
der Doktor ja nur seinen Job tut und dass die Information für die
Gesundheit wichtig ist und nur dafür, nicht für andere Zwecke,
z.B. sexuell.
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Privilegierte Kommunikation mit dem Arzt, die Vertraulichkeit. Diese ist
durch die Berufsethik gewährleistet.
Affektive Neutralität
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Zur Sexualität. ein Praktiker z.B. geht gewöhnlich aus dem Untersuchungszimmer,
wenn er keine Sprechstundenhilfe oder keinen gesonderten Raum hat, damit
eine Frau sich zur körperlichen Untersuchung frei machen kann. Ansonsten
käme er in die Rolle, dass für die meisten Männer das
Auskleiden der Frau das Eingehen einer sexuellen Beziehung bedeutet, hingegen
für den Arzt die Untersuchung der Frau auf dem Untersuchungstisch
zur professionellen Aufgabe gehört.
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Statt seiner Persönlichkeit wird der "Fall" bearbeitet.
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Ärzte dürfen nicht ihre Abneigung gegen einen Patienten in schlechterer
Behandlung ausdrücken. Aber: Ein Chirurg würde einen 9-jährigen
Jungen in einem ähnlichen Fall nicht noch einmal operieren, um ihm
das lange und schwere Leiden und die lange Rekonvaleszenz zu ersparen.
Welche Bedeutung
hat die Kombination von Universalismus, Funktionsspezifität, affektiver
Neutralität mit der Kollektivorientierung der Arztrolle für den
Patienten?
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Durch die Kombination Universalismus, Funktionsspezifität, affektive
Neutralität kann der Arzt zu den privaten Affären seiner Patienten
durchdringen, mit ihnen einen besonderen Zusammenhang eintreten. Nicht
nur, um Widerstände zu überwinden, sondern auch zum Selbstschutz
dienen diese Regeln, wie zum Beispiel die beschützende Nurse. Die
Rollen des persönlichen Intimpartners, des Liebhabers, des Eltern
oder des persönlichen Feindes haben genau entgegengesetzte Ausprägungen
wie die des Professionellen.
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In der Psychotherapie meint der Patient durch Übertragung, der Arzt
habe ein besonderes Verhältnis zu ihm. Er lockt dieses hervor, weil
er ein solches Verhältnis braucht. Das hat größte Bedeutung
in der Arzt-Patienten-Beziehung.
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Der Arzt muss sich gegen solche Gefühle, auch eigene unbewusste
Wünsche, schützen. Seine affektive Neutralität erlaubt es
ihm, entsprechende Gefühle des Patienten nicht zu erwidern. Der Arzt
bildet das Analogon zu den Problemen des Patienten: Der Psychoanalytiker
beobachtet den Patienten, der Patient jedoch nicht den Arzt. Indem er sich
ein Bild über ihn macht, überträgt er seine Gedanken
auf das des Arztes (n. Ruesch/Bateson 1995, S. 193/231)
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Es ist nicht die Anwendung von Theorien, sondern die spontane, ungeplante
Entwicklung. D
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Ein bedeutender Teil der nicht psychiatrischen Praxis ist unbewusste
Psychotherapie. Dies trifft deshalb zu, weil die ärztliche Rolle in
der angegebenen Weise praktiziert wird.
Kollektivorientierung
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Scharfer Kontrast zum Geschäftsmann. Vom Mediziner wird erwartet,
dass er das Wohlergehen des Patienten über sein Selbstinteresse
stellt. Er darf keine Patienten zurückweisen, wenn diese nicht kreditwürdig
sind, er darf keine Preise von Kollegen unterbieten, nicht annoncieren
etc. wie ein guter Geschäftsmann. Keine Verhandlung über Gebühren
(?!)
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Informale Mechanismen schützen den Patienten eher vor Ausbeutung seiner
Hilflosigkeit als es Strafen des Staates für Fehlbehandlung bewirken
könnten.
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Der Patient muss Vertrauen in seinen Arzt haben. Geht er stattdessen
„shopping“ zu einem anderen, bricht das Vertrauen zusammen. Der Patient
muss mit dem Arzt kooperieren in seiner Krankenrolle, seine Anordnungen
/ Verordnungen („orders“) befolgen. Dies kann nur durch die
reziproke Kollektivorientierung legitimiert sein und als institutionalisierte
Autorität wirken. Ärztliche Anordnungen können nur bei Kollektivorientierung
legitimiert sein. Der Arzt ist verantwortlich, und der Patient tut seinen
Teil als Dr. X’s Patient im gemeinsamen ‘Unternehmen’. Im Geschäftsleben
gibt es die Ausschließlichkeit nicht (s.o.).
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In jedem Fall kann der therapeutische Prozess nur erfolgreich sein, wenn
der Patient seinem Arzt traut. Wenn der Arzt nur an seinem eigenen Wohlergehen
interessiert wäre, könnte der Patient ihm leicht eine Rolle in
seinem Teufelskreis zuschreiben
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Die Kollektivorientierung ist der Schlüssel zur unbewussten Psychotherapie
in nicht-psychiatrischer medizinischer Praxis.
Wie vereinbart
sich ärztlicher Altruismus mit dem Gewinnmotiv?
Sind alle Geschäftsleute herzlose Egoisten und Mediziner Altruisten?
Dies trifft in diesem Fall nicht zu.
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Mediziner sind sowieso von der Persönlichkeit eher serviceorientiert.
Das Zurückweisen der Möglichkeiten des Geschäftsmanns in
einer institutionell gut integrierten Situation ist schon in seinem Selbstinteresse.
In anderen Worten: Die Kollektivorientierung als professionelles Muster
ist in die institutionellen Erwartungen des Verhaltens und der Eigenschaften
integriert. ist. Selbstinteresse und altruistische Elemente der Motivation
sind kanalisiert in den Pfad der Konformität mit diesen Erwartungen.
Paradox: Es ist in des Arztes Selbstinteresse, gegen sein eigenes Selbstinteresse
zu handeln. Allerdings nur in einer aktuellen Situation, nicht auf
Dauer.
-
Der Unterschied zwischen dem Muster der Berufsorientierung und dem der
Geschäftswelt, bei dem es sich um den Unterschied zwischen der Kollektivitätsorientierung
und der Selbstorientierung handelt, ist institutional und nicht
motivational. Das ist ein lebendes Beispiel dafür, daß
die Soziologie über die individuelle Sichtweise des Problems hinaus
die Bedeutung für das Sozialsystem erkennt.
Erste
Schlussfolgerung:
-
Es geht hier um spezielle Bedingungen im kulturellen und im sozialen
System. Die Anwendung technisch-wissenschaftlicher Methoden auf die Krankheit.
Die instrumentelle Arbeitsteilung verlangt dazu die effektive Umsetzung
der Berufsrolle. Diese Rolle ist institutionalisiert.
Die institutionalisierte Krankenrolle konstituiert einen Set von Bedingungen,
die den Arzt notwendigerweise seine Kompetenz in die Situation einbringen
lässt. Nicht nur der Patient bringt seine Bedürfnisse nach
Hilfe ein, sondern sein Bedürfnis ist institutionell kategorisiert,
die Natur und Implikationen seiner Bedürfnisse sind sozial anerkannt
und die Handlungsmuster sind definiert. Dies ist der institutionelle Rahmen.
Bedeutsam ist es, dass andere als der Patient selbst definieren, ob
dieser krank ist.
-
Die Kollektiv-Orientierung des Arztes, sein Universalismus, Neutralität
und Spezifität machen es möglich, dass der Arzt in der Beziehung
vom Patienten und seiner Familie akzeptiert wird und seine Aufgabe wahrnehmen
kann. Dies schließt die Bewertung seiner professionellen Autorität
und Berechtigung seiner Privilegien ein, denen zugestimmt werden muss.
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Es ist ja auch möglich, sich als Kranker von Verwandten behandeln
zu lassen. Dieser kann aber nicht mit wissenschaftlichen Methoden arbeiten.
Wir müssen daher die Krankenrolle unterscheiden von der Rolle des
Patienten als Empfänger eines wissenschaftlich trainierten professionellen
Arztes.
-
Die Krankenrolle als potentielle Patientenrolle
ist charakteristisch in unserer Gesellschaft.
Zweite Schlussfolgerung:
-
Beide, die Kranken- bzw. Patientenrolle und die Rolle des Arztes haben
eine verborgene Funktion für die Motivationsbalance des Sozialen Systems.
-
Krankheit wird als eine Form abweichenden
Verhaltens definiert, Konformität erzwungen.
-
Die Kranken- und die Arztrolle stehen im latenten Zusammenhang mit anderen
Phänomenen, die auf den ersten Blick gar nichts mit Gesundheit zu
tun haben:
-
Durch die Krankenrolle wird verhindert, dass Abweichungen nicht
gefährlich werden, in dem beispielsweise die Legitimität
von Gruppenbildung verhindert wird. Die Kranken sind beschäftigt, nicht
mit anderen Kranken aus der Subkultur der Kranken, sondern mit Gesunden
(Personal) und insbesondere den Ärzten. (Selbsthilfegruppen?)
-
Es gibt keine Perspektive für jeden, krank zu werden - es macht keinen
Sinn, wenn alle Menschen krank würden, um mit den Frustrationen des
Sozialen Systems fertig zu werden.
-
Diese Funktionen werden sogar ohne therapeutische Beeinflussung ausgeübt!
Ein größerer Anteil abweichenden Verhaltens wird der Krankenrolle
zugeschrieben. Die Krankenrolle mag aber weniger gefährlich für
die Stabilität des sozialen Systems sein als andere Alternativen.
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Zusätzlich zur vereinzelnden Funktion der Krankenrolle gibt es reintegrative
Einflüsse durch zwei Faktoren:
-
aufgeklärte Psychotherapie ist wie die Spitze des Eisbergs. In der
der Rolle des Arztes, als Kunst der Medizin betrachtet, ist der größere
Teil der Psychotherapie zu finden - unabhängig von der Bewusstheit
der Grundlage.
-
Insbesondere wichtig ist die Kontinuität des erfolgreichen Copings
von Belastung in sozialen Beziehungen als Bestandteil einer größeren
Klasse solcher Mechanismen.
-
Latente soziale Kontrolle beruht auch auf Mustern magischen und religiösen
Rituals.
Schluss
In der Analyse moderner medizinischer Praxis lässt sich theoretisches
Paradigma anwenden: die Ausgleichsprozesse im sozialen System.
Quellen:
- Parsons, T.: The Social System. Chapter X: Social
Structure and Dynamic Process. The Case of Modern Medical Practice, 4. Auflage 1968, S. 429 - 479, 1. Auflage,
Glencoe, Illinois 1951
- Vgl. auch Übersetzung des Kapitels:
Rüschmeyer, D. (Hg. René König):
Sozialstruktur und dynamischer Prozeß: Der Fall moderner
medizinischer Praxis. In: KZfSS, 3. Sonderheft 1958
- Lüth, P.: Kritische Medizin. Reinbeck bei Hamburg 1972
- Münch, R.: Theorie des Handeln: Zur Rekonstruktion
der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, 1.
Auflage, Frankfurt/M. 1988
- Ruesch, J./Bateson, G.: Kommunikation: Die soziale Matrix
der Psychiatrie, Heidelberg 1995
- Thoma, P.: Das Krankheitsverständnis in medizinischer
Theorie und Praxis und
Malzahn, P.: Die psychosoziale Situation des Patienten.
In: Geissler, B. und Thoma, P. (Hg.): Medizinsoziologie,
2. Auflage, Frankfurt (M)/New York 1979
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