Sozialstruktur und dynamischer Prozess im Falle der modernen Medizin


Inhalt:

Wodurch ist das Rollenverhältnis zwischen dem Professionellen und dem Klienten gekennzeichnet?

Kern: Durchdringung der Beziehung zwischen Professionellem und Klienten

Den Professionellen zwingt dessen Loyalität seiner wissenschaftlichen Disziplin und gegenüber den sozialen Systemen, für die er den Klienten zur Rollenausführung befähigen soll, zur stetigen Heranführung an spezifische, neutrale, universalistische und performative Orientierungen. Diese sind wiederum nur durch deren Pendant wirksam (n. Münch 1988, S. 81).
 

Welche Bedeutungen hat die Krankheit für ein soziales System?

Krankheit:

Daher gibt es ein funktionales Interesse der Gesellschaft, Krankheit zu minimieren und zu kontrollieren. Ein Beispiel ist der vorzeitige Tod. Geburt, Kinderpflege und Sozialisation, Schulausbildung etc. verursachen gesellschaftliche Kosten. Stirbt ein Mensch vorzeitig, bedeutet das, dass die Kosten nur einen Teil des möglichen Ertrages zeitigen.

Welches sind die Hauptaufgaben der Medizin?

Welchen Stellenwert hat die Krankenbehandlung zwischen Magie und Wissenschaft?

Mit welchen  Orientierungsalternativen lässt sich die Arztrolle kennzeichnen -  welche Besonderheit ist jedoch etabliert?

Orientierungsalternativen

Die Rolle des Arztes gehört zu der allgemeinen Klasse der freiberuflichen (‘professional’) Rollen, einer Subklasse der größeren Gruppe der beruflicher Rollen. Ebenso wie für die Mutterrolle ist zwar die Sorge um die Kranken typisch für die Arztrolle, der technische Inhalt der Funktion bedingt aber den institutionalisierten Status des Arztes als full-time Job.  Seine Rolle ist erworben durch Leistungskriterien (Performanz). Im Einklang mit den Mustern der Berufsrollen in unserer Gesellschaft verkörpert seine Rolle die Werte  „Universalismus, funktionelle Spezifität, affektive Neutralität“, anders als die Rolle des Geschäftsmanns ist jedoch seine Rolle kollektiv-orientiert, nicht selbst-orientiert:

Bilden die Kranken die Bedingung der Sozialrolle des Arztes, ist Kranksein einfach eine Lage, in die man gerät? So einfach ist es nicht. Die entscheidende Bedingung (der ‘test’) ist die Existenz eines Sets von institutionalisierten Erwartungen und korrespondierenden Gefühlen und Sanktionen.

Welches sind die Kennzeichen der Krankenrolle?

Die Krankenrolle beinhaltet Folgendes :

  1. Befreiung von der normalen sozialen Rollenverantwortlichkeit (abh. von der Erkrankung), aber auch eine Verpflichtung. Sie müssen sich melden, wenn sie das Bett hüten müssen. Das ist gegen Krankfeiern.
  2. Krank sein heißt, sich nicht mehr zusammenreißen zu können. Es geht um sein Befinden, nicht um seine Einstellung. Die Rolle ist negativ bestimmt durch die Unfähigkeit, sich wohl zu fühlen, also negativ erworben durch den Verlust an Gesundheit. Andererseits gibt es positive Motivationen, die dadurch Motivationen  zur Abweichung sind.
  3. Der Kranke muss Hilfe annehmen. Der Heilungsprozess mag spontan sein, dauert die Erkrankung an, kann er sich allein nicht helfen. Das ist die Brücke für die Akzeptanz von Hilfe.
  4. Die ersten beiden Elemente sind nur dadurch legitimiert, dass der Kranke auch gesund werden will, genauso wie es seine Partner auch wollen. Der Kranke muss die Motivation zur Besserung und den Wunsch zu überleben haben (Ruesch/Bateson 1995, S. 110)
  5. Der Kranke muss die technisch kompetente Hilfe des Arztes aufsuchen und muss mit ihm kooperieren. Er darf die Autorität des Arztes als Experte nicht in Frage stellen, muss ihm alle relevanten Informationen zur Verfügung stellen und all seine Anordnungen befolgen (n. Malzahn in Geissler (Hg.) 1979, S. 259). Die Rolle des Arztes und des Kranken fügen sich zu einer komplementären Rollenstruktur zusammen.

Die Privilegien und Freiheiten der Krankenrolle sind ein sekundärer Gewinn, der den Patienten zusätzlich motiviert, gewöhnlich unbewusst, ihn sich zu sichern bzw. beizubehalten. Im allgemeinen sind Motivationsbalancen von großer funktionaler Bedeutung für das Sozialsystem, sie sind ausnahmslos institutionell kontrolliert.

Das besondere Muster der Krankenrolle und ihre Beziehung zur Sozialstruktur

Wodurch ist die Situation des Patienten im Einzelnen gekennzeichnet?

Welche Bedeutung hat der Tod für die Berufsausübung des Arztes in der Gesellschaft?

Wodurch ist die Sonderstellung des Arztes gegenüber anderen Berufsgruppen bedingt?

Ist es ausreichend, wenn er konsequent und geduldig genug auf seine Ziele hinarbeitet? Emotionen, starkes Leiden und die Lebensgefahr bringen gewisse Probleme der eigenen emotionalen Einstellung mit sich. Kenntnis, Drill und eigene Ressourcen können dabei an ihre Grenzen kommen. Die Sonderstellung hat folgende Aspekte:

  1. Schwierigkeit der Diagnosestellung. Es gibt keine Punkt-zu-Punkt Beziehung zwischen der Realität und ihrer Kontrolle durch eine Diagnose. Die Anwendung von Kontrollregeln kann fruchtlos bleiben. Das Vertrauen in die richtige Diagnose ist oft schlecht begründet. Osler (1870) zeigte, dass die damaligen Mittel gegen Pneumonie weder nützlich noch wirksam waren. Der Gedanke, die Krankheit doch nicht rational kontrollieren zu können: das war wissenschaftlicher Fortschritt.
  2. Unzureichende / fehlende Therapiemöglichkeiten.  Ein Patient verliert z.B. an Körpergewicht  und  Energie. Die diagnostische Prozedur ergibt einen fortgeschrittenen inoperablen Krebs des Magens. Man weiß zwar mehr, aber die Hoffnung ist zerstört. Die Medizin kann zwar mehr feststellen, ist aber weit davon entfernt, die festgestellten Krankheiten beseitigen zu können. Der Mediziner kann nichts machen, ist aber den tiefen Emotionen des Patienten und der Angehörigen ausgesetzt, ist emotional angespannt. Hilft keine wissenschaftliche Erkenntnis, greift er ebenso wie der regredierte Patient auf Neomagie zurück (s. Lüth 1972, S. 298).
  3. Die absoluten Grenzen für die Krankheitskontrolle (diese sind natürlich relativ zum medizinischen Fortschritt) ist nicht die einzige Quelle für Frustration und Überanspannung. Hinzu kommt die Ungewissheit, welche Faktoren sich durchsetzen werden. Es kann auch sein, dass gar keine Faktoren bekannt sind,  der bestgeführteste Plan schief geht. Es ist unmöglich, eine Linie zu ziehen zwischen den spontanen Heilungskräften und den Effekten der ärztlichen Intervention.
  4. Ein großer Bereich für diese nicht in Betracht gezogenen Faktoren ist die psychische Situation, die gerade im höchstentwickelten Feld der angewandten Naturwissenschaften ignoriert wurde. Der Arzt ist  für alles verantwortlich, was den Pat. komplett, früh und schmerzlos heilen läßt. Interaktionen betreffen auch die emotionalen Störungen. Magie spielt innerhalb der Patientengruppe als auch bei den Ärzten eine Rolle. Die Doktor-Patient-Beziehung ist nicht einfach eine Institutionalisierung von Rollen, sondern spezielle Mechanismen angewandter sozialer Kontrolle. Trotz Ungewissheit gibt es ein starkes emotionales Interesse am Erfolg, ähnlich wie in anderen technischen Berufen (z.B. wichtig auch bei der Kriegführung). Ein Ingenieur z.B. hat es aber hat es mit Material zu tun, nicht mit Menschen und ihren emotionalen Regungen und der intimen Beziehung zu ihnen.
  5. Sehr starke Gefühle hängen mit der Körperlichkeit zusammen. Es ist schamlos, wenn ein Mann ohne Hosen in der Öffentlichkeit erscheint, ebenso eine Frau ohne Shirt und Hose. Es ruft starke Gefühle hervor, ist ein Symbol hochstrategischer Bedeutung. Für den Arzt ist der Zugang zum Körper aber essentiell notwendig, um seine Funktion wahrzunehmen, es gehört als auch die rektale oder vaginale Untersuchung dazu. Das darf sonst nur der Sexualpartner.
  6. In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem der Körperverletzung, der Ängste vor gewöhnlichen Injektionsnadeln oder vor einer OP. Die Zustimmung zu erhalten, ist nicht selbstverständlich, ebenso nicht für die Untersuchung mit der Bronchoskop beispielsweise. Irrationale Reaktionen des Patienten sind nicht abnormal. Der Fakt, daß diese organisiert und kontrolliert ist, macht die Zustimmung nicht unproblematisch. Angesichts der Möglichkeit der Störung zeigt sich die erfolgreiche Kontrolle als besonders wichtiges soziologisches Problem.
  7. Ähnlich muss das Problem des Zugangs zu vertraulichen Informationen betrachtet werden. Manche Dinge würde ein Patient nicht einmal seiner Frau erzählen, die für den Arzt eine symptomatische Bedeutung haben. Der Arzt wird in signifikant private Angelegenheiten des Patienten einbezogen, gestaltet eine intime und persönliche Beziehung. Deren funktionelle Problem unterstreichen die Strukturierung seiner professionellen Rolle.
  8. Hinzu kommt die unbewusste Projektionsbedeutung, Übertragung  (transference). Der Patient schreibt dem Arzt Elemente zu, die nicht wirklichkeitsadäquat sind, sondern aus psychischen Bedürfnissen des Patienten herleiten.

Das Zusammenwirken des Kranken mit seinen Intimitäten und dem Arzt bringt Komplikationen mit sich in der menschlichen Einstellung. Der berufliche Tätige muss trainiert sein, um mit dem Distress fertig zu werden.

Welche Bedeutung haben die Orientierungsalternativen für  die Sozialstruktur?

Funktionale Bedeutung institutionalisierter Regeln medizinischer Praxis:
Zentrum des professionellen Musters ist  Leistungsdenken, Universalismus, funktionale Spezifität, affektive Neutralität und Kollektiv-Orientierung.

Universalismus

Funktionsspezifität

Affektive Neutralität

Welche Bedeutung hat die Kombination von Universalismus, Funktionsspezifität, affektiver Neutralität mit der Kollektivorientierung der Arztrolle für den Patienten?

Kollektivorientierung

Wie vereinbart sich ärztlicher Altruismus mit dem Gewinnmotiv?

Sind alle Geschäftsleute herzlose Egoisten und Mediziner Altruisten? Dies trifft in diesem Fall nicht zu.

Erste Schlussfolgerung:

Zweite Schlussfolgerung:

Schluss
In der Analyse moderner medizinischer Praxis lässt sich theoretisches Paradigma anwenden: die Ausgleichsprozesse im sozialen System.
 
 


Quellen:

© Claus-Henning Ammann 2002, www.multimedia-pflege.de